Hoffnung auf einen Neuanfang

Es ist Oktober, goldener Oktober, und ich sitze mit Frauen meiner Gottesdienstvorbereitungsgruppe zusammen und wir unterhalten uns über „Weihnachten im Gefängnis“.

Ganz unterschiedliche Frauen sind beieinander, unterschiedlich alt, mit unterschiedlich langer Haftzeit, jede mit ihrem ganz eigenen Lebenshintergrund.Bei anderen Treffen verbindet uns das Interesse, den jeweiligen Gottesdienst für den nächsten Sonntag vorzubereiten, heute wollen wir uns Gedanken machen über das Erleben von Weihnachten hinter Gittern.

Die Frauen äußern spontan, was ihnen zu den einzelnen Buchstaben des Wortes „Weihnachten“ einfällt:

W = Wärme
E = Einsamkeit
I = Igelverhalten
H = Heimat
N = Nähe
A = Außenseiterinnen-Gefühl
C = Chancenlosigkeit
H = Haltlosigkeit
T = Traurigkeit
E = Erkenntnis
N = Neuanfang

Doch was verbirgt sich für sie hinter den elf Begriffen?!? Die eine erzählt uns, dass die Adventszeit für sie untrennbar verknüpft ist mit dem „November-Blues“, der sie in der dunklen Jahreszeit mit ihrer trüb-tristen Stimmung oft überfällt – und wie sehr sie sich da nach Wärme, nach innerer Wärme sehnt. Dazu passt das Gefühl der Einsamkeit, meint eine andere, mit dem ich im November und vor Weihnachten besonders zu kämpfen habe. Da tut es besonders weh, von der Familie, von Freundinnen getrennt zu sein. Und die eine oder andere igelt sich als Reaktion darauf dann ein, zeigt nach außen Igelverhalten, stellt die Stacheln auf, ist stachelig aggressiv, um so ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Reiner Selbstschutz, erklärt eine andere mir.

„Weil, Sie können sich gar nicht vorstellen“, fährt sie weiter fort, „wie weh die Frage nach ‚Heimat‘ tut“. Die Frage: wo bin ich eigentlich zu Hause, ist die JVA jetzt mein Zuhause? Kaum vorstellbar! Das Gespräch fließt weiter.

Ein Zuhause haben bedeutet Nähe spüren. Aber die Nähe der anderen Frauen, die so anders sind als man selbst, wird oft bedrängend empfunden und vermieden. Also: bloß alle Gemeinschaftsveranstaltungen in der JVA meiden. Und zugleich: zu welcher Gemeinschaft gehöre ich denn eigentlich?

Zur Gemeinschaft inhaftierter Frauen, einer Zwangsgemeinschaft? Zur Gemeinschaft meiner Familie draußen, wo ich immer wieder das Gefühl habe, Außenseiterin zu sein, das schwarze Schaf eben?!? Und für die Gesellschaft sind wir „Knackis“ doch eh Außenseiterinnen! Denn: wer gibt uns eine Chance, nach der Entlassung eine Wohnung zu bekommen, eine Arbeit zu finden? Und habe ich, nachdem meine Ehe während der Haftzeit zerbrochen ist, die Chance, wieder einem Menschen zu begegnen, der mich liebt, dem ich meine Liebe schenken kann? Eine knüpft an diesen Gedanken an: Manchmal fühlt man sich so haltlos – und sehnt sich doch so sehr nach Halt, nach Geborgenheit. Gerade zu Weihnachten wird einem das so schmerzlich bewusst – und erfüllt mit einer tiefen Traurigkeit.

Und vielleicht hängt es auch mit Weihnachten zusammen, dass man zu der Erkenntnis kommt: ich bin schuldig geworden, ich stehe zu meiner Tat, ich bin zu Recht in Haft.

Weihnachtszeit – für die eine oder andere auch Zeit, in sich zu gehen, sich zu fragen: was muss sich in meinem Leben ändern, was kann ich besser machen. Und dann, gerade zu Weihnachten, die Hoffnung auf einen Neuanfang, nicht als unbeschriebenes Blatt, aber mit der Zusage: „Du bist uns willkommen, du hast – wie alle Menschen – eine zweite Chance verdient, wir sind für Dich da!“

Gedanken zu Weihnachten

Geäußert von Frauen, die die Feiertage hinter Gittern verbringen, verbinden mit Weihnachten Ängste und Träume, Sehnsucht und Hoffnung und so vieles mehr.

Ich als Seelsorgerin höre zu, schweige, halte aus, begleite – und sage immer wieder mal ganz leise, nicht vollmundig: „Fürchte dich nicht“ diese Worte aus der Weihnachtsgeschichte zu Frauen, deren Leben oft genug Momente bereit hielt, wo ihnen zum Fürchten zu Mute gewesen war; Furcht vor anderen, Furcht auch vor sich selbst.

„Fürchte dich nicht, Gott ist auch für dich Mensch geworden“. Diese Botschaft gilt gerade auch hinter Gittern, an Weihnachten – und zu allen Zeiten.

(Anette Domke)

Annette Domke, Gefängnisseelsorgerin in der Justizvollzugsanstalt Vechta, war vor einigen Jahren Pastorin in Edewecht.


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